Anstaltsgeschichten und Geistersichten


Texte für Erwachsene

Missverstanden - Die Horrorpuppe

 Ich wollte doch nur spielen 

Wollte nichts Böses bezwecken 

Doch sollten meine Taten 

Dich zu Tode bald erschrecken 

Ich war doch immer nett 

Schrieb deinen Namen an die Wände 

Legte mich des nachts zu dir 

Hielt manchmal sogar deine Hände 


Bin nur ein Geist in einer Puppe 

Wieso hast du solche Angst? 

Nur, weil mein Schatten 

Gelegentlich durchs Zimmer tanzt? 


Hältst du mich für gefährlich, 

Weil mein Stühlchen sich bewegt? 

Oder weil mein Köpfchen 

Sich bei deinem Lächeln regt? 


Welcher Liebreiz fehlt denn mir, 

den tote Puppen haben? 

Liegts am Blinzeln meiner Augen 

oder doch an meinen Gaben? 


Willst du meine Träume nicht, 

Nicht den Schutz und nicht die Nähe? 

Die ich dir in der Dunkelheit 

Immer so gern gebe! 


Du hast mich enttäuscht! 

Ich fühl mich missverstanden. 

Doch kann ich leider nicht heraus 

Denn dieser Körper ist mein Haus 


Drum muss ich leider bleiben 

Und leise weiter leiden.

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(Bild: Canva KI)

Aisling und Oisin

Triggerwarnung: In dieser Geschichte kommen gewalttätige Handlungen vor. Lies sie bitte nur, wenn es dir gerade gut geht.

Eine Kurzgeschichte, die eine lange werden könnte...


Da war er wieder! Der Mann mit den Kaninchenohren. Regungslos stand er auf der anderen Seite des langen Flurs der Anstalt. Er war einfach durch die Wand in ihre Wirklichkeit getreten. Ungeduldig schaute auf seine Taschenuhr, bevor er sie wieder in die Hosentasche seines braunen Anzugs schob. Dann wandte er sich der jungen Frau mit den blauen Augen zu.


„Die Zeit läuft ab, Aisling. Wir müssen los.“


Das alles konnte nur ein Traum sein. Jedenfalls hatte ihr das der Doktor immer wieder gesagt. Hatte er gelogen? Nein, bestimmt nicht. Oder doch? Unmerklich zog sie an ihren langen, aschblonden Haaren und zuckte zusammen. Wenn es nicht spürst, dann ist es nur ein Traum, hatte die Nachtschwester ihr erklärt. Doch sie hatte es gespürt. Wieso hatte sie es nur gespürt? Vielleicht war es nur ein Tagtraum, wie die anderen auch.


Sie kannte Oisin schon lange. Seit Jahren hörte sie die Stimme des Kaninchenmanns in den Ohren, fühlte seinen Namen im Herzen und erspähte seinen Schatten im Augenwinkel


Erst hatte sie versucht ihn zu ignorieren. Doch als er das erste Mal im Traum lebensgroß vor ihr aufgetaucht war, war ihr klar geworden, dass ihr das nie wieder möglich sein würde. Wie auch? Er war ein weißes Kaninchen mit der Silhouette eines Menschen, und seine Stimme klang nach wohliger Wärme und Vertrauenswürdigkeit.


Schlussendlich wandte sie sich Oisin zu, statt ihn weiter auszublenden. Ein fataler Fehler. Aislings Gespräche mit Oisin machte den Menschen um sie herum Angst. Sie nahm es ihnen nicht übel. Schließlich bekamen die anderen stets nur mit, was sie zu sagen hatte, und sahen auch nicht, mit wem sie da eigentlich sprach.


Als Aisling jedoch ihre Freiheit verlor, weil sie in die Anstalt gebracht wurde, war sie nicht mehr so verständnisvoll. Sie war doch harmlos! Warum hatte man sie weggesperrt?


Zu allem Überfluss veränderte sich in dieser Zeit auch Oisins Verhalten. Von Besuch zu Besuch in ihrem Kopf wirkte er nervöser, ungeduldiger. Aisling verstand nicht, wieso. Dank der Beruhigungsmittel konnten sie sich viel besser sehen, auf der Traumebene zwischen Schlaf und Ohnmacht.


Irgendwann, vertraute er ihr seine Sorge an: „Wenn sie einen Weg finden, dich vom Träumen abzuhalten, kannst du nie wieder nach Hause zurück.“


Immer wieder redete er von Zuhause, und dass er einen Weg suchte, sie dorthin zurückzuholen. War das der Grund, warum sie sich in ihrem Leben niemals wohl gefühlt hatte? Und wo war das Zuhause, wenn sie ihn nur im Träumen und Tagträumen sah?


„Du wirst es verstehen, wenn du zurück bist“, sagte er ihr immer wieder. 


Manchmal erzählte Oisin Geschichten von ihren Taten, wie mutig und stark in der Anderswelt gewesen sei. Und wenn sie über Kälte klagte, schaute er sie mitleidig und wissend an, sagte aber nichts.


Eines Abends entschied Aisling, dass sie so nicht mehr sein wollte. Dass sie am Tag nicht mehr mit Oisin sprach, erkannte der Doktor als Fortschritt an. Was, wenn sie auch in den Träumen damit aufhörte?

Fest entschlossen nahm sie ihre Schlafmedikamente, legte sich auf das Bett in ihrem Zimmer und schloss die Augen. Kurz darauf rief sie Oisin innerlich zu sich. Wie immer musste sie nicht lange auf ihn warten. 


Gerade an diesem einen Tag, schien auch für ihn etwas anders zu sein. Zum ersten Mal seit langem wirkte er freudig erregt.


„Aisling! Ich habe einen Weg gefunden, wie du wieder nach Hause kannst!“


Wirklich?“, wollte sie sagen. Doch schnell besann sie sich und blockte ab. „Lass mich in Ruhe! Du bist nichts weiter als ein Hirngespinst. Ich will, dass du mich in Ruhe lässt!“


„Was redets du da?“


Der Schmerz in Oisins Augen tat auch ihr weh, doch sie wollte sich nicht mehr von einem Gedankenkonstrukt gefangen nehmen lassen. Wenn sie wieder frei sein wollte, musste sie ihn davonjagen.


„Geh weg!“


Das weiße Kaninchen ließ die Ohren hängen. So lange hatte er gewartet und endlich nach einer Lösung gefunden. Was sollte er jetzt tun? Traurig schüttelte er den Kopf. Es war ohnehin besser, ihr nicht zu erzählen, wie sie in die Anderswelt zurückkehren konnte.


Erkaltet nickte er ihr zu. „Gut. Ich werde dich hier nicht mehr besuchen.“


Eilig zog er an seiner Taschenuhr und drehte an den Zeigern. Dann schnippte er mit den Fingern und verschwand schließlich aus Aislings Traumwelt.


Drei Wochen lang war Aisling allein in ihrem Kopf geblieben. Sie fühlte sich einsam, und doch hatte es sich gelohnt. Wenn sie noch einen, höchstens zwei Monate durchhielt, würde sie aus der Anstalt entlassen werden. Dann wäre sie endlich wieder frei und könnte selbst entscheiden, wohin sie geht.


Das Einzige, was sie plagte, waren die traumlosen Nächte und die damit einhergehende Einsamkeit. Außer Oisin hatte sie niemand, mit dem sie wirklich sprechen konnte.


So kam es, dass sie eines Morgens schon früh über den Flur schlich, auf dem ihr neues Zimmer lag, das sie bewohnte, seitdem das Personal keine Verrücktheiten mehr von ihr erwartete. Es war kalt und dunkel. Trotzdem war Aisling nur in ihrem Morgenmantel und auf Socken unterwegs.


Als sie um eine Ecke bog und kurz aufsah, erschrak sie. Auf der anderen Seite des Flurs erblickte sie Oisin. Nicht im Traum, nicht verschwommen, sondern glasklar hob sich seine Silhouette vom ergrauten Weiß der Wände ab. Wie versteinert beobachtete sie, wie er erst auf seine Uhr und dann in ihre Augen sah.


Einen Augenblick später setzte er sich in Bewegung. Mit jedem Schritt, der an den Wänden des Flurs widerhallte, wurde Aisling klarer, dass sie ihn jetzt nicht ignorieren konnte. Doch wenn die Pfleger sie so sahen, würde sie nicht mehr hier herauskommen. Also lief sie los, durch eine Tür und eine Treppe hinauf bis auf den Dachboden, der im obersten Stock über eine Wendeltreppe zu erreichen war. Hier, so hoffte sie, würde sie niemand finden, bis der Anfall vorbei war.


Ängstlich drückte sie sich zwischen ein paar Kisten in die Dunkelheit. Sie hörte, wie Oisins Schritte langsam die Wendeltreppe hoch und dann auf sie zukamen. Eilig nahm sie ihre Hände vor das Gesicht. Vielleicht verschwand er, wenn nicht all ihre Sinne ihn wahrnahmen.


Mit Schrecken nahm sie wahr, wie er vor ihr zum Stehen kam und sich langsam vor sie hinkniete.


„Sieh mich an“, flüsterte er nah an ihrem Ohr. „Es bringt nichts, mich zu ignorieren.“


Verzweifelt versuchte Aisling, sich gegen den Drang zu wehren, ihn doch anzusehen. Als er jedoch vorsichtig eine ihrer Hände wegzog und sie in seine behandschuhte nahm, schaute sie auf. Sie blickte in vertraute Augen aus traurigem Grau.


„Willst du nicht nach Hause zurück?“, fragte er sie eindringlich.


Einen Moment überlegte sie. In dieser Welt war sie unglücklich und allein. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt. Wenn er sie schon berühren konnte, dann musste an dem, was er ihr schon so lange erzählte, wirklich etwas dran sein.


Wie um zu testen, ob sie echt war, drückte sie seine Hand. Als er den Druck vorsichtig erwiderte, stand ihr Entschluss fest.


„Ich will zurück nach Hause“, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme und sah ihn dabei entschlossen an.


Oisin lächelte. Behutsam zog er sie an sich heran und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.


„Ich habe so lange darauf gewartet“, flüsterte er. „Hoffentlich kannst du mir verzeihen.“



Ein merkwürdiger Druck durchzuckte Alice, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Und noch einen, und noch einen, und noch einen, und noch einen. Fünf mal stach der Mann mit den Kaninchenohren auf sie ein, bevor er sie fest an sich drückte.


„Es gab keinen anderen Weg“, flüsterte er. „Wenn du wieder aufwachst, bin ich da, versprochen!“


Von all dem, was er sagte, bekam Aisling fast gar nichts mehr mit. Es war, als würde sie von außen beobachten, wie Oisin ihren Körper sanft zur Ruhe legte und sich zum Gehen wandte. Erneut blickte er auf seine Uhr und drehte ein paarmal daran, bevor er mit den Fingern schnippte. In diesem Moment war es ihr, als würde ihre Seele an einem Gummiband durch Raum und Zeit geschleudert.


Gebrochen und von Schuld geplagt betrachtete Oisin Aislings leblosen Köroer, der schon so lange gefroren da lag. Er hatte sie aus ihrem Sarg befreit und ans Flussufer gezerrt, weg von der Ader aus Eis und Bosheit, in der seine Gefährtin schon so lange feststeckte. Die eisige Königin hatte sie beide ausgetrickst, Aislings Seele verbannt und in einem Menschen in der anderen Welt gebunden.


Mit einem Mal stahl sich ein Lächeln in Oisins Gesicht. In der anderen Welt hatte er ihr weg getan. Doch wenn Aisling endlich hier aufwachte, würden sie dran sein, und die eisige Königin für ihre Tagen büßen lassen. Wie als Antwort auf seinen Gedanken holte Aislings diesseitiger Körper ruckartig Luft und schlug die roten Augen auf.


Oisin hielt sie noch einen Moment zurück und strich ihr sanft eine schwarze Locke aus dem Gesicht.


„Willkommen zurück, meine Gefährtin.“

(Bild: Canva KI)

Die weiße Frau und ihre Jäger

Ihr besucht mich in der Nacht, 

mit blinkenden Geräten 

Wollt mit mir locker plaudern 

Über mein erlöschtes Leben


Es stimmt! 

Es wurde mir genommen 

Schon vor vielen hundert Jahren 

Erstickt wie Kerzenlicht 

Von einem Mörder der mich stieß 


Von den Klippen fiel ich einst 

In einem Kleid aus weißem Tuch 

Dies trage ich noch heute 

Wenn ihr mich neugierig besucht 


Kommt ruhig! 

Ich zeige mich zu gern 

All jenen, die mich rufen 

Um mich zu amüsieren 

Nicht, um euch zu verfluchen


Ihr Jäger rätseln gerne 

Und bedauern meinen Tod 

Doch leb´ ich seitdem ewig 

Und endlich ohne Not 


Mein Mörder fuhr zur Hölle 

Schon vor vielen hundert Jahren 

Dieses Schloss ist seitdem Mein 

Und seine Geister Untertanen 


Diesseits bin ich Königin 

Und schütze das Portal 

Das immer hängen bleibt 

Im großen Spiegelsaal

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(Bild: Canva KI)

Der Stille Turm

Triggerwarnung: Lies, bzw. höre diesen Text bitte nur, wenn es dir gerade gut geht. In der folgenden Geschichte geht es um Freiheitsberaubung und versuchten Suizid.

Elane
Elane sah aus dem Fenster. Ihre ganze Welt war grau und von Regen ertränkt. 397 Tage war es her, seit sie die Schwelle des Sanatoriums St. Georg zuletzt übertreten hatte. Vor 402 Tagen war ihre Schwester gestorben, genau hier. Sie hatte nach Antworten gesucht, hatte ihren Tod aufklären wollen. Jetzt war sie genau so eingesperrt wie jene, mit denen Lucia, ihre Schwester, gearbeitet hatte. Nur, dass Elane zu denen zählte, an die sich niemand erinnern sollte. Es gab keinen mehr, der ernsthaft noch nach ihr suchen würde. Lucia war die Einzige, die sie gehabt hatte, ihre einzige Familie, die sie brauchte. Doch dafür würde jetzt niemand mehr ernsthaft nach ihr suchen, erst recht nicht nach all der Zeit.

Ihre Zelle, ein kleines Zimmer, in dem sie alles fand, was sie brauchte, um irgendwie zu überleben, war eine von dreien, die im Turm lagen. Dem Turm, den nur die wenigsten Pfleger betreten durften. Sie hatten sie hier eingesperrt, wie die Hexe aus der Geschichte es mit Rapunzel getan hatte.


Vitus
Sieben Jahre. Solange war es bereits her, dass Vitus hier oben eingesperrt war. Verdammt von der Welt, lebendig begraben durch seine eigene Vergangenheit. Er sollte hier nicht mehr herauskommen, dafür hatte er zu viel gesehen, zu viel herausgefunden. Sollte er dankbar sein? Draußen war er kein guter Mensch gewesen. Er hatte sich in Computersysteme gehackt und Schutzgeld für Informationen verlangt, die sogar das Eis unter den Füßen einflussreicher Leute zum bersten bringen konnte. Ein Teil in ihm glaubte fest daran, dass ihm hier oben Recht geschah, sollte er irgendwann sterben. Ein anderer Teil jedoch wusste, dass sie ihn gefangen hielten, weil sie es waren, die wirklich gefährlich werden konnten.

Ein Klirren riss Vitus aus seinen Gedanken. Es kam aus der kleinen Zelle neben ihm. Die Wände zu seiner Linken und seiner Rechten waren nachträglich und definitiv nicht von Handwerkern errichtet worden. Er wusste, dass links neben ihm noch jemand lebte. Ein Mädchen, vielleicht auch eine sehr junge Frau. Er hatte manches Mal gehört, wie sie mit sich selbst sprach.

Ein Lebenszeichen von einem Menschen, er hätte nie gedacht, dass es ihm seine Zeit hier so verschönern konnte, obwohl er sie nicht sah. Wer auch immer es war, ihre Selbstgespräche klangen nach Hoffnung und ließen in ihm neuen Lebensmut aufkeimen. Vielleicht, wenn er nur die Chance bekäme, ein neues Leben zu beginnen…

Doch diesmal sagten die Geräusche, dass etwas anders war. Die Stimme wirkte erstickt und das leise Scharren der Scherben klang gebrochen. Er spürte, dass sein Licht auf der anderen Seite der Wand flackerte wie eine Kerze im Wind. Er fürchtete sich vor dem, was passierte, wenn es erlosch.

Elane
Eine Träne glitt über Elanes Wange. Dieser Regen, dieser endlose Regen zwang sie in die Knie. Lucia war tot und sie selbst war längst nicht mehr am Leben. Diese verblasste Silhouette im Spiegel, die ihr vorgaukelte, dass sie eines Tages einen Weg herausfinden würde, sollte endlich schweigen. Damit sie aus dem Turm in ihrem Kopf fliehen konnte.
Elane nahm einen der Splitter auf, in die der Spiegel zerschellt war. Das Seifenstück, mit dem sie ihn zertrümmert hatte, lag inmitten der Scherben, in denen sich ihr Ebenbild in trauriger Zerrissenheit spiegelte. Für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, dass sie nicht sich selbst, sondern den flehenden Blick ihrer Schwester sah. „Du bist verrückt geworden“, sagte Elane zu sich selbst. Sie wollte die Verrücktheit nicht länger umarmen, wollte nicht mehr auf Hilfe warten. Die Pfleger waren bereits da gewesen. Erst in zwei Tagen würden sie zurückkommen. Das wusste sie, weil sie ihr heute wieder mehr zu Essen gebracht hatten. Es waren zwei, die neben Doktor Irene und Doktor Martin von ihr hier oben wussten. Sie alle würden zu spät kommen.

Müde blickte Elane auf das Innere ihres Handgelenks und führte die Spitze des Splitters an die feinen blauen Adern, die auf ihrer fahl gewordenen Haut so gut zu sehen waren. Dann knallte es heftig.

Erschreckt ließ sie die Spiegelscherbe fallen. Hinter ihr hatte sich ein Loch in der Wand aufgetan, in dem von der anderen Seite ein Stuhlbein aus Metall steckte. Nach einem kurzen Moment der Stille verschwand es und ein Auge wurde sichtbar. Es war ein trauriges, trüb blaues Auge, das weit aufgerissen in ihren kleinen Raum starrte. „Bitte“, sagte eine Stimme dumpf unter dem Auge, das ihren Blick flehend fixierte.

Für einen Moment hielt sie die Luft an.

„Bitte, tu das nicht.“

Sie atmete aus. Nachdem sich ihre Schockstarre gelöst hatte, ging sie langsam zu dem Loch hinüber und starrte in das menschliche Auge. Außer der Pfleger hatte sie schon lange keinen Menschen mehr gesehen. Sie hatte manches Mal geglaubt etwas zu hören, seine Existenz jedoch stets angezweifelt. Jetzt starrte er sie vorsichtig flehend an, bat sie, den Turm nicht auf diese Art zu verlassen. Kannte er sie? War er echt oder nur der verzweifelte Ruf ihres Unterbewusstseins, das noch länger in dieser Welt bleiben wollte?

Vitus
„Bist du echt?“, hörte Vitus sie flüstern. Erleichtert atmete er aus. Dass sie mit ihm sprach, bedeutete, dass sie für einen kurzen Moment von ihrem Vorhaben absah. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück, um dann seine Hand durch das Loch in der Wand zu strecken.

„Was du fühlen kannst, ist echt.“ Es dauerte einen kurzen Moment. Dann spürte er, wie ihre Fingerspitzen prüfend seinen Handrücken berührten. Sie war kalt, doch sie lebte. Das Licht war noch da.

Ein Schluchzen durchzuckte seinen Körper, ließ die Angst vor erneuter Einsamkeit langsam in ihm einschlafen. Die Hand auf der anderen Seite hatte sich gelöst und dem Blick der Fremden Platz gemacht, die viel zu jung für dieses Gefängnis war, in dem sie beide lebten.

Elane
Vor Elane saß ein Mann mit dunklem Haar und blauen, weinenden Augen. Er musste um die 30 sein, vielleicht etwas älter oder jünger. Er war gepflegt und wirkte doch verwahrlost. So wie sie. Die Pfleger brachten ihnen, was sie benötigten, denn die Doktoren legten Wert darauf, dass jeder Insasse stets sauber war. Sie unterschieden sich kaum von den Patienten. Und doch waren sie anders, beide. Nicht nur, weil sie normale Kleidung trugen. Sie waren nicht hier, um wieder gesund zu werden.
„Wer bist du?“, fragte sie.

Vitus
Er räusperte sich. „Vitus“, sagte er mit einer Stimme, die schon lange nicht mehr benutzt worden war. „Ich bin seit sieben Jahren hier.“

Elanes sah zu Boden und blickte ihn dann mitfühlend an. „Vermisst dich niemand?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Wie heißt du, wie alt bist du?“

„Elane. Ich bin 16.“

Irgendwas an ihren Worten erstickte Vitus´ Glauben daran, dass es eine gerechte Strafe gewesen war, ihn hier oben einzusperren. Sicher, er war kein Unschuldiger, und er hatte genug Zeit gehabt, um darüber nachzudenken. Doch was konnte sie schon groß falsch gemacht haben? Warum war sie hier?

Es vergingen mehrere Stunden, in denen Vitus langsam seine Stimme wiederfand.

Elane erzählte ihm von ihrer Schwester, die als Pflegerin in der Anstalt gearbeitet hatte, bevor sie selbst zur Insassin wurde. Sie sei verrückt, ja sogar gefährlich geworden, hatten sie ihr gesagt und jeden Besuch untersagt. Elane hatte ihnen jedoch kein Wort geglaubt. Irgendwann war sie selbst heimlich in das Sanatorium eingedrungen, um nach Antworten zu suchen. Sie war durch den Keller geschlüpft, da sie Elane nicht mehr durch den Haupteingang ließen. Was sie dort gesehen hatte, war ihr zum Verhängnis geworden.

Elane
Dort unten war es nicht wie in den Räumen, in denen ihre Schwester gearbeitet hatte. Es waren keine hellen Zimmer, keine Ärztinnen und Ärzte, kein Pflegepersonal, das sich um die Patienten im kümmerte und ihnen half, zu genesen.
Sie hatte Räume voller Reagenzgläser und Petrischalen gefunden, Stimmen gehört, die darum flehten in Ruhe gelassen zu werden. Bevor sie es schaffte, wieder aus den Kellerräumen des Sanatoriums zu verschwinden, war sie erwischt und betäubt worden und schließlich in ihrem Turmzimmer wieder aufgewacht.

„Vielleicht war ich nicht für die Experimente unten geeignet“, sagte sie nachdenklich. „Oder vielleicht verwahren sie uns, bis ihnen ein Grund einfällt, uns nach unten zu holen.“

Vitus
Vitus schüttelte den Kopf. Er begann, sich zu erinnern. „Wir sind bereits Teil eines Experiments. Sie isolieren uns und schauen, was passiert. Deshalb lassen sie uns manchmal für längere Zeit allein.“

Woher wusste er das nochmal?

Ach ja. Er hatte sich in die Systeme des Sanatoriums eingeklinkt und von den Experimenten erfahren. Sowas hatte er schon oft getan, doch hatte er noch nie derartige Leichen im Keller gefunden. Dennoch hatte er sie erpresst, mit dem Hintergedanken, trotzdem alles zu verraten. Doch hatte sich die Führungsriege von St. Georg nicht erpressen lassen, sondern dafür gesorgt, dass sie ihn fanden und hierher brachten, um genau das zu verhindern.

Sicher, was er damals getan hatte, waren die Taten eines Erpressers gewesen. Er war nicht unschuldig. Doch Elane hatte das hier nicht verdient. Sie war 16 und hatte niemanden, der nach ihr suchte. Wenn das hier seine gerechte Bestrafung war, was hatte sie dann hier zu suchen?

Sie hatte ihre Freiheit verloren, weil sie wissen wollte, was mit ihrer Schwester passiert war. Jetzt hatte sie nichts mehr als die fiktiven Gespräche mit ihr. Die Erkenntnis, dass mit ihrer Geschichte sein Glaube an eine gerechte Strafe zusammenbrach wie ein Kartenhaus, ließ so etwas wie Hoffnung in ihm aufkeimen. Wie junge Pflanze, die auf einen einzigen lebensspendenden Sonnenstrahl wartete.

Elane
Elane war überrascht gewesen, Vitus auf diese Art und Weise anzutreffen. Wo vorher noch eine weiße Wand gewesen war, klaffte jetzt ein Loch, durch das sie sich mit Vitus unterhielt. Statt zu verbluten. Er war echt, sie hatte seine Hand fühlen können. Sie war warm gewesen. Und er war schon immer da gewesen, auch wenn sie ihn kaum bemerkt und seine Geräusche als Hirngespinste abgetan hatte.

Sie hätte ihn gerettet, hatte er ihr gesagt. Sehr lange seien kaum Menschen im Turm gewesen. Es gab drei Zellen, eine davon war leer. Wer hierher kam, starb irgendwann oder wurde verrückt und konnte in den bekannten Bereichen der Anstalt untergebracht werden, da sie keine Gefahr mehr darstellten. Es musste die Einsamkeit sein, die Vitus für sie so schnell zum Vertrauten machte. Ein Flüstern an ihrem Ohr sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte.

Mit einem Mal tief entschlossen sah sie Vitus durch das Loch in der Wand an. „Wir haben zwei Tage. Das sollten wir nutzen.“

Vitus
Traurig blickte er sie an. Die Türen waren elektronisch verriegelt. „Wir haben keine Chance. Außerdem sind Kameras auf den Fluren.“

Elane schnaubte. „Ich werde diesen Turm verlassen, egal wie.“

Wie als Aufbegehren gegen ihre Worte begannen die Lichter in ihren Turmzimmern zu flackern. Die Anomalie im Stromnetz dauerte nur einen kurzen Moment und endete mit dem mechanischen Klicken der Metalltüren, die zeitgleich aus ihren Schlössern sprangen.

Mit klopfenden Herzen standen sie auf und gingen auf die Sicherheitstüren ihrer Zellen zu. Dann standen sie sich erstmals ohne Wand gegenüber.

Vitus war etwas größer als Elane. Sein Training hatte ihm geholfen, einigermaßen bei Verstand zu bleiben. Im Mondlicht, das durch ein Fenster auf ihre aschblonden Haare und ihren verwunderten Gesichtsausdruck fiel, wirkte sie zerbrechlich. Doch hatte er das Gefühl, dass der Schein trog. Schnell warf er einen flüchtigen Blick auf die Kamera hinter ihr. Sie war ausgeschaltet. Irgendwas musste sie lahmgelegt haben, genau wie die Türen ihrer Zellen.

Vitus und Elane

Elane sah zu ihm auf. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Er hatte ihr von schlimmen Dingen erzählt. Doch waren diese nichts im Vergleich zu dem gewesen, was die Leiter von St. Georg ihnen angetan hatten. Dann durchzuckte es sie. Bilder erschienen vor ihren Augen. Bilder von Fluren, Spinnweben, einem Raum mit Spinden und dem Weg nach draußen. Fest entschlossen drehte sie sich zu einer Wendeltreppe. „Lass uns gehen“. 
 
Die Treppe führte sie in die Tiefe und dann zu einer Tür im inneren der Wand. Vitus, der jede einzelne Kamera mit einem Blick überprüfte, hätte sie fast nicht gesehen. Doch Elane drückte sich entschlossen dagegen und öffnete die Zwischendecke, die sie bis zu einem Raum entlangliefen, in dem mehrere Spinde standen. Hier suchte sie scheinbar zielstrebig nach Schuhen, die ihr passten. 

„Woher wusstest du das?“, fragte er verwirrt, suchte dann aber selbst nach passendem Schuhwerk. Dann durchwühlte er die Taschen der dort hängenden Mäntel und steckte Geld aus mehreren Börsen in ein Portemonnaie. Er wollte seine neue Chance nutzen, wenn sie es schaffen sollten. Doch ohne Geld kämen sie nicht weit. 
 
Elane sah in den Spiegel, wie um zu prüfen, ob die Kapuzenjacke, die sie sich genommen hatte, ihre Antlitz unauffällig genug erscheinen ließ. „Meine Schwester hat mir gesagt, wo wir hingehen müssen.“ 
 
Vitus sah sie prüfend durch den Spiegel hindurch an. „Du meinst damals, und dann hast du dich erinnert.“ 

Sie schüttelte den Kopf. „Wir sollen uns beeilen und durch den Seiteneingang verschwinden.“ Sie öffnete eine andere Tür, die sie auf einen Flur führte. Schnell griff er nach einer schwarzen Jacke und zog sie sich über. Dann verließ auch er den Raum. 

Er konnte es kaum fassen. Da standen sie beide im hellen Licht des Mondes, draußen auf dem Hinterhof der Anstalt. Die Freiheit, der Waldrand vor ihnen, war durch ein großes, leicht geöffnetes Tor erreichbar. Doch leider waren sie nicht allein. 
 
Vor ihnen stand Doktor Irene, gekleidet in herzlose Eleganz, mit einer Pistole bewaffnet. Bereit, abzudrücken. Sie hatte den Stromausfall bemerkt und schnell alles in Bewegung gesetzt, um das Netz wieder ans Laufen bringen zu lassen.
 
Natürlich musste es der Hacker gewesen sein. Wie auch immer er es gemacht hatte, ein einfacher Stromausfall hätte ihr Sicherheitssystem nicht so einfach lahmlegen können. Sie würde die beiden nicht gehen und Vitus nicht am Leben lassen. Niemand sollte ihr Lebenswerk zerstören, das sie zusammen mit Martin geschaffen hatte. Forschung brauchte ihre Opfer, und die Schwester dieses Mädchens hatte das nie verstanden. Wenigstens hatte die Verwendung ihres Körpers sie ein Stück weitergebracht. 

Die beiden machten keine Anstalten, sich zu bewegen. Doktor Irene hob die Waffe und zielte. Elane sah, dass Doktor Irene Vitus ins Visier nahm. Ohne nachzudenken, stellte sie sich vor ihn. 
 
„Geh beiseite“, flehte er. „Lauf weg.“ Doch sie ließ sich nicht erweichen. Als sie hörte, dass die Doktorin die Waffe entsicherte, löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Sie wollte nicht sterben, das wusste sie jetzt. Doch wollte sie auch nicht, dass jemand anderes starb. Langsam schloss sie die Augen, dann hörte sie den Knall. 
 
Der Schmerz, den sie erwartet hatte, sollte nie kommen. Als sie Vitus´ Hände fest auf ihren Schultern spürte, öffnete sie ihre Augen wieder und starrte ungläubig in Richtung der Doktorin. Ihr Gesicht war verzerrt von Entsetzen. 

Vor der Doktorin war eine Frau erschienen, die Elane sehr ähnlich sah, jedoch wie in Nebel gehüllt wirkte. Sie hatte die Hände an die Waffe von Doktor Irene gelegt und sie in ihre Richtung geschoben, noch bevor diese hatte abdrücken können. 

„Lucia“, hörte Vitus Elane flüstern. Sie hatte also gar nicht mit sich selbst gesprochen. Oder war er auch verrückt geworden? Langsam drehte die Gestalt sich zu ihnen um und fixierte Vitus mit einem Blick, der ihm alles sagte, was er wissen musste. Sie hatte ihnen bis hierher geholfen und ihn herausgelassen, um ihm ihre Aufgabe zu übertragen. Als er ihr zustimmend zunickte, verschwand sie. Dann wurde die gesamte Anstalt in Dunkel gehüllt. 

„Komm mit“, sagte Vitus zu Elane und schob sie mit leichtem Druck in Richtung des Waldes. Sobald sie beide in Sicherheit waren, würde er die Daten der Anstalt ins Netz stellen. Er wusste wieder, wo er sie damals versteckt hatte. 
 
Niemand folgte ihnen den dunklen Waldpfad hinab ins Tal. Vitus wusste noch, dass sich dort ein kleiner Bahnhof befand, deren nächster Zug sie von hier fortbringen würde. Anscheinend hatte Lucias Geist im Inneren des Sanatoriums für genug Aufruhr gesorgt, sodass der Knall der Waffe im Chaos offener Zellen und fehlendem Licht unterging. 
 
Nach einer Weile erreichten sie endlich den kleinen Bahnhof. Vitus ging zum Schalter und kaufte zwei Tickets für einen Zug, der sie in seine Heimatstadt bringen sollte. Er erinnerte sich an zwei alte Freunde, die ihm bestimmt helfen würden, das wusste er einfach. Mit ihrer Hilfe würde er sich ein neues Leben aufbauen und Elane dabei unterstützen ihren Weg zu gehen, wie es ihre Schwester getan hatte. 
 
Als die Türen des Zuges sich vor ihnen öffneten, atmete Elane tief durch. Es war ihr gleich, wohin sie fuhren. Sie wusste jetzt, dass sie nicht verrückt geworden war. Ihre Schwester war in dieser Welt geblieben, um sie zu beschützen. Als die beiden nebeneinander Platz genommen hatten, wurde ihr fast leicht ums Herz. Elane und Vitus waren frei. 

(Bild: Canva KI)